Nun gibt es ja genug, worüber ich mir als Weltbürgerin im Moment Sorgen machen könnte, man weiss gar nicht, wo man zuerst hingucken soll bei all den Problemen. Und ausgerechnet jetzt kriecht mir noch ein zusätzliches Unbehagen den Rücken hoch, von wo es dann fast täglich kalt wieder hinunterläuft.
Mich nerven lautstark polemisierende Typen. Nach meinem Empfinden waren das bis vor kurzem fast ausnahmslos ziemlich rechts stehende, in meinen Augen ewig gestrige Personen des öffentlichen Lebens. Da war für mich die Welt und meine persönliche Kategorisierung quasi noch in Ordnung.
Die genannten Exemplare gibt es immer noch, aber sie werden seit einiger Zeit von einem neuen Phänomen in den Schatten gestellt. Oder hat sich da bloss meine Wahrnehmung verschoben? Heutzutage bleibt es oft nicht beim Polemisieren, sondern es kommt zu Drohungen und Handgreiflichkeiten. Zu solchem Verhalten aber neigen nun nicht unbedingt SVP-Politiker sondern progressive Linke. Ein Redner an der ETH, dessen Ansichten nicht ins gängige Bild passen? Sein Auftritt wird zum vornherein verhindert. (Bei uns noch ein Novum, aber da wir schon immer ein paar Jahre hinter Amerika her hinkten, wohl bald die Regel). Eine verdiente Feministin outet sich als Zionistin? Sofort wird sie von anderen Feministinnen verurteilt, obwohl es mir schleierhaft ist, was das eine mit dem anderen zu tun hat. Ein Autor schreibt ein unbequemes Buch pädagogischen Inhalts? Vielleicht hat er Glück und kommt mit einem Shitstorm davon. Eine Illustratorin zeichnet einen gewagten Comic? Es könnte das Ende ihrer Karriere sein.
Der neuste Fall: Andreas Thiel. Nicht dass ich ein Fan wäre; ich kenne den Mann nur des Skandals wegen, den Rogers Schawinskis Interview mit ihm auslöste. Vermutlich würde mir sein Auftritt so wenig gefallen wie seine Frisur, aber egal. Andreas Thiel also, der in seinem Bühnenprogramm auch den Islam nicht ausklammert, der ist zum Satiriker non grata geworden und weil er als Vegetarier nun mal keine Eier mag und generell keine Gewalt, zieht er es fortan vor, nicht mehr aufzutreten. Wieder einer mundtot gemacht.
Auf einmal gibt es da eine Gilde, die nicht nur weiss, welche Werte die einzig wahren sind, sondern alle, die anderer Meinung sind, zum Schweigen bringen will. Die Andersmeinende einfach niederschreit. So uneinig ich im allgemeinen mit den rechten Politikern bin; diejenigen die lautstark Anlässe stören, sind sie nicht. Darin sind ihnen linke Aktivisten deutlich voraus. Ein richtig schöner Streit, der sich damit im besten Fall zu einer produktiven Diskussion entwickeln könnte, wird dadurch im Keim erstickt.
Wenn’s ums Politisieren geht, dann geht es neuerdings auch um Identitäten. Wer nicht zur selben Gruppe gehört, wer etwas verlauten lässt, was „politisch nicht korrekt“ ist, mit dem will man nicht nur nichts zu tun haben, dem will man auch das Wort verbieten. Aufgrund der vielen Splittergruppnen, die dadurch entstehen, geht der Kern der Sache dann schon mal flöten. Wofür war man noch mal genau? Hauptsache gegen DIE.
Dass sich mitunter aber dann wieder die launigsten Koalitionen bilden (wenn zum Beispiel verhüllte Frauen, welche die Scharia eine gute Sache finden, neben Hardcore Feministinnen marschieren), sollte mich nicht weiter erstaunen. Ich blick nämlich nicht mehr durch. Und ich weiss auch nicht mehr, auf welcher Seite ich stehe. Ich hab sozusagen ein bisschen die Orientierung verloren.
Aber – ob ich das überhaupt noch sagen darf?